The Kinks: Ray Davies wird 80


Ray Davies wird am 21. Juni 80 Jahre alt. Den Chef der Kinks ist sicherlich einer der größten britischen Songwriter in der Popmusik. Unter „kinks“ versteht man sexuelle Vorlieben, die von den Standards abweichen – ein gewagter Bandname also. Groß wurde Ray Davies‘ Band (mit Bruder Dave Davies an der Gitarre, Peter Quaife am Bass und Mick Avory am Schlagzeug), vor 60 Jahren, als die Beatles die „British Invasion“ Amerikas mit dem englischen Beat begonnen hatten, und ihnen die Rolling Stones bereits auf dem Weg gefolgt waren.

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„Wir Jungen feierten Freiheit und Freizügigkeit, während es ökonomisch bergab ging, während die Kohlenbranche am Boden lag, und die Minenarbeiter streikten. Am Ende der Dekade hatte ich das Gefühl, dass auch jüngere Leute wie uns der Blues überkam, weil Britannien kein großes Empire mehr war“, erinnerte sich Davies 2020 in einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Davies‘ Talent, in den Texten die englische Kultur abzubilden und dabei virtuos ins Satirische zu schweifen, brachten dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Londoner den Titel „Godfather of Britpop“ ein, jener sich auf die Swinging Sixties beziehenden Gitarrenrock/pop-Welle der Neunzigerjahre. Die zuweilen schlingernde Leadstimme und die krachigen Lieder bezaubern bis heute Fans des Indierock.

Doch warum ist das so? Die Antwort liegt – wie so oft – in den Songs selbst.

1. You Really Got Me (1964)

Ein Rock-‘n‘-Roll-Hitzeschlag aus dem Sommer 1964. Mit dieser Wuchtbrumme, die eigentlich als „laid-back-song“ angedacht war, begann die Laufbahn der Kinks und überdies die Geschichte des harten Rock (als man noch von Beat sprach). „You Really Got Me“ kreiste später in den Hirnen der Metalgötter und Punkrocker, die bekannteste Coverversion stammt von Van Halen. Tolles Riff, überwältigendes Gitarrensolo von Ray Davies‘ Bruder Dave (und nicht, wie oft behauptet, von Jimmy „Led Zep“ Page), der das Stück als „Liebeslied für Straßenkinder“ klassifizierte.

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Weiterhören: „All Day and All of The Night“, „Till The End of The Day“, „20th Century Man“

2. Waterloo Sunset (1967)

So London wie „Waterloo Sunset“ ist kaum ein Song, obwohl das Lied anfangs „Liverpool Sunset“ hieß, nach dem Erscheinen der Beatles-Single „Penny Lane“ (über eine Liverpooler Straße) aber in die Hauptstadt verlegt wurde. Die idyllische Stimmung und die betörende Melodie machten den Song zum Klassiker. Textlich ging es um Migration. Ray Davies‘ Schwester Rosy war 1964 mit Mann und Kind nach Australien ausgewandert. „Man nannte sie dort die Zehn-Pfund-Bastarde“, erinnerte sich Davies 2020 im RND-Gespräch. „Denn alles, was die Briten für den Neuanfang dort brauchten, waren 10 Pfund Aufnahmegebühr.“

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Weiterhören: „Tired of Waiting for You“, „Days“, „Death of A Clown“ (gesungen von Dave Davies, der auch Ko-Autor ist)

3. See My Friends (1965)

Das war über Schwulsein in den Swinging Sixties. Ein Junge ist sich nicht im Klaren über seine Sexualität. Davies verarbeitet eigene diesbezügliche Unsicherheiten (zudem den Tod seiner Schwester, die bei einer Tanzveranstaltung ganz plötzlich an einem Loch im Herzen starb). Die schwule Thematik ist eher zart, weniger dramatisch als in den 1970er-Jahren in Rod Stewarts „The Killing of Georgie“ oder „Under one Roof“ von den Rubettes. Ein großer Hit wurde das nicht, sehr zu Davies‘ Enttäuschung. Der Drone-Effect auf der Gitarre erinnert an eine indische Tambura. Damit zählte „See My Friends“ zum Raga-Rock wie die Sitarsongs „Norwegian Wood“ (Beatles) oder „Paint It Black“ (Rolling Stones).

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Weiterhören: „David Watts“, „Stop Your Sobbing“

4. A Well Respected Man (1965)

Die Kinks erzählen in diesem folkigen Midtempo-Song von einem konservativen Upper-Class-Mann, der so von sich selbst überzeugt ist, dass er sogar seinen Schweiß für den besten hält. In Wahrheit ist er ein gieriger Schlonz – darauf aus, den Vater endlich zu beerben und dem Nachbarmädchen endlich ans Mieder zu dürfen. Davies‘ Volte gegen die Doppelbödigkeit der Reichen ergab sich aus einem unschönen Erlebnis in einem Luxusressort, in dem betuchte Gäste ihn partout zu einer Golfpartie nötigen wollten, und nicht von ihm, dem bekannten Popstar, abließen. Von da an beschloss Davies, „Worte stärker zu gebrauchen und ‚Dinge‘ auszusprechen“.

Weiterhören: „Mr. Pleasant“, „Young Conservatives“, „Victoria“

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5. Sunny Afternoon (1966)

Thema: häusliche Gewalt. „Mein Mädchen ist mit meinem Auto davongefahren / zurück zu ihrer Ma und ihrem Pa / sie erzählt denen Märchen von Trunkenheit und Grausamkeit“, barmt der Held von „Sunny Afternoon“, während er einen sonnigen Nachmittag faulenzt und an einem eiskalten Bier nippt. Ein Jammerlappen, der die Steuerbehörde anklagt, ihm nur noch sein Herrenhaus zu lassen. Satirische Breitseite gegen Alt- und Neureiche im England der Klassen und eine von Davies‘ bissigsten Meisterstreichen. Musikalisch kongenial hingeschlufft durch Nicky Hopkins‘ Melodica. Ein unwiderstehlicher Song, der „Paperback Writer“ von den Beatles von der Brit-Chartsspitze verstieß.

Weiterhören: „Dandy“, „Have a Cuppa Tea“

6. Plastic Men (1969)

Mit dieser fast perfekten schunkelnden Hitsingle beschlossen die Kinks die Sechzigerjahre. Das mit dem Hit scheiterte an der Zeile „plastic legs lead to his plastic bum“ – das Wort „Popo“ war den Plastikleuten der BBC zu jugendgefährdend – Radiobann! Der aparte Song starb auf Chartsplatz 31. Worum es geht: Um die zu Konformität und Verkünstelung neigende Gesellschaft, falsche Menschen in falschen Leben, über Leute, die Äußerlichkeiten über innere Werte stellen. Interpretationen in diese Richtung sind am häufigsten. Aber vielleicht war auch Paul McCartney gemeint, mit dem Davies damals über Kreuz lag. Oder John Lennon, und Yoko Onos „bagism“-Plastiksäcke-Kunstkonzept. Und was sagt der Songwriter dazu? Er schweigt.

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Weiterhören: „Dedicated Follower of Fashion“, „Wonderboy“

7. Lola (1970)

Dragqueen oder Transfrau? Darüber wurde damals gerätselt. Ein junger Mann trifft die Schönheit Lola in einer Bar in Soho. Dass sie redet wie ein Kerl und geht wie eine Frau, mindert die Verliebtheit des Erzählers keinen Deut. Ray Davies hatte für die Lyrics „ein bisschen Recherche in Sachen Dragqueens betrieben“. Dass der Song auf seine Dinnertreffen mit der Transschauspielerin (Hormonbehandlung) und Warhol-Muse Candy Darling beruhten, bestreitet er. Dass er Hitpotential hatte, erkannte Davies, weil seine kleine Tochter, die gerade erst sprechen lernte, die ganze Zeit durch die Wohnung lief und „la-la-la, Lola“ sang.

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Natürlich gab es umgehend Angriffe wegen des Transgender/Drag-Themas. Im „Record Mirror“ sagte Davies, für den unterdrückte Sexualität ein wichtiges Thema war: „Es ist doch nun wirklich egal, welches Geschlecht Lola hat, ich denke, sie ist in Ordnung“.

Weiterhören: „Monica“, „Wicked Annabella“, „Johnny Thunder“

8. Ape Man (1970)

Kinks Tropicana! Ein Kinks-Calypso stieg bis auf Platz fünf der Britcharts. In dem Song geht es um eine erträumte Flucht aus der modernen Gesellschaft mit all ihren nervigen technischen Gadgets, ihrer Hektik und Anonymität. Ab in den Dschungel! Die Zeile „I don‘t feel safe in this world no more / I don‘t want to die in a nuclear war / I want to sail away to a distant shore / and make like an apeman“, ist traurig aktuell, wobei es wohl keine Gestade gibt, die fern genug wären für jene Art von Krieg, mit dem Diktator Putin dieser Tage alle naslang droht.

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Zum satirischen Postulat einer Rückkehr zur Natur übt Davies auch Kritik an der Umweltverschmutzung und -zerstörung durch den Menschen: „The air pollution is a-foggin‘ up my eyes“. Der Inhalt dieser Zeile wurde ignoriert, diskutiert wurde indes, dass „a-fogging“ (beschlagen) ja wohl wie „a-fucking“ klang. Davies musste, um einen Radiobann zu vermeiden, zurück ins Studio, um ein eindeutigeres „a-fogging“ zu singen. Aus heutiger Sicht ziemlich affig.

Weiterhören: „I‘m on an Island“, „Everybody‘s Gonna Be Happy“

9. Shangri-La (1969)

Der Ort des Friedens und des Endes von Last und Betrübnis – James Hiltons Shangri-La, sagenhafter Ort in Tibet aus seinem Roman „Der verlorene Horizont“ (1933). Es gibt ihn nicht, sagt uns Ray Davies in seinem Song über die von großer Hoffnung erfüllten britischen Auswanderer nach Australien in den Sechzigerjahren. Die guten alten Zeiten waren nie gut, aber die besseren neuen sind es auch nicht. „Jetzt, wo du dein Paradies gefunden hast / ist dies das Königreich, in dem du befiehlst. / Du kannst rausgehen und dein Auto putzen / oder in deinem Shangri-La am Feuer sitzen“, singt Davies davon, dass der kleine Mann überall klein bleibt.

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Die Nachteile der Designer-Vorstädte in Australien zählt er auf. Die Hypothek und die Rechnungen sind hoch, das Auto kaum zu halten und die Nachbarn lästig. Der Song beginnt akustisch und moderat, steigert das Tempo, Bläser kommen hinzu, die Bridge haben sich Abba wohl für „Mamma Mia“ geborgt. Das zugehörige Album „Arthur or the Decline and Fall of The British Empire“ wurde von der Kritik gefeiert (von „the Kinks finest hour“ sprach der „Rolling Stone“), vom Käufer ignoriert. 14 Tage vor „Arthur“ hatten die Beatles ihr Album „Abbey Road“ veröffentlicht und waren damit sofort weltweit auf Platz eins gegangen. War Davies eifersüchtig? „Nein. Ich bewunderte die Beatles, das war kommerziell ein anderes Level“, sagte er 2020 gegenüber dem RND. „Es ist doch so: Wenn ein ‚Superman‘-Film im Kino anläuft, hat es jeder andere ähnlich gute Film schwer.“

Weiterhören: das Konzeptalbum „Arthur or The Decline And Fall of The British Empire“

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10. I‘m Not Like Everybody Else (1966)

„Das habe ich immer so empfunden“, sagte Ray Davies dem „Mojo Magazine“ über den Titel dieser Single-B-Seite, die den brüchigen Lo-Fi-Charme einer Indieballade hat (es gibt eine kraftvollere Liveaufnahme auf dem 1994er Album „To The Bone“). Aber man müsse sich ja wohl auch einreden, fuhr Davies fort, dass man nicht so werden würde wie die anderen: „Vielleicht geht es vielen jungen Menschen so, aber man muss sich auf die Suche nach dem machen, was einen auf eine andere Reise bringt. Für mich war das die Musik, die ich schon als Teenager in der örtlichen Kneipe gespielt habe.“ Dieses Liebeslied ist eines, um sich selbst lieben zu können. Einer der größten Musiker der Popgeschichte, einer der bedeutendsten Songwriter der Popgeschichte versichert sich seiner Wertschätzung. Zu Recht. Happy birthday, Ray Davies!

Weiterhören: „Life on The Road“, „The Road“, „How Do I Get close?“, „Don‘t forget to Dance“

P. S.: Die Kinks hörten 1996 ohne offizielle Auflösung auf. Davies begann eine Solokarriere, liebäugelte aber wiederholt mit einem Neubeginn seiner Band. Im Frühjahr 2020 versprach er, er werde sich auf dem ersten Kinks-Album seit damals 26 Jahren der betrüblichen Gegenwart widmen. „Ich kann‘s kaum erwarten“, sagte Davies damals im Gespräch mit dem RND und versprach eine Veröffentlichung noch 2020. Das Warten dauert (leider) bis heute an.



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