Ein Einblick in das Leben und Werk des unverstandenen Genies


Freiburg. Nichts hat Anton Bruckner so sehr begleitet wie das Klischee. In den berühmten Scherenschnitten Otto Böhlers scheint der Komponist wie ein Gnom auf, ein Zwerg mit Goethe-Stirn und markanter Nase, der selbst neben dem nur 1,66 Meter großen Richard Wagner klein wirkt. Dabei war das Gegenteil der Fall – Bruckner soll neun Zentimeter größer gewesen sein­ … Bei Böhler – und nicht nur bei ihm – wirkt der am 4. September 1824 im oberösterreichischen Ansfelden geborene Dorfschullehrerssohn devot, buckelnd: Auch als er im Komponistenhimmel von einem auf ihn zukommenden Franz Liszt und einem sich etwas zurückhaltenden Richard Wagner begrüßt wird. Ein Außenseiter bittet um Einlass ins Elysium.

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Die musikalische Welt nahm Bruckner gerne wie einen Scherenschnitt wahr. Als Silhouette eines untypischen Romantikers. Keiner, mit dem sich Geniekult betreiben ließ. Ein einfacher Mann aus der Provinz, gläubig katholisch, die Obrigkeit hofierend, aber dennoch ehrgeizig. Einer, der dem bodenständigen Essen frönte, ein überzeugter Junggeselle, der vor dem anderen Geschlecht indes nicht die Augen verschloss, sondern gerade in seinen 40ern ungelenk, aber entschlossen auf Brautschau war.

„Schamlos opportunistisch“ sei er gewesen, schreibt der österreichische Musikwissenschaftler Wolfgang Winkler, wenn es um die Widmungsadressen seiner Werke ging. Doch wer kennt nicht die Geschichte vom Besuch Bruckners im September 1873 in Richard Wagners Bayreuther Villa Wahnfried? In Tränen sei Bruckner ausgebrochen in Gegenwart des von ihm so verehrten Komponisten. Wagners Frau Cosima ist das keine Zeile wert in ihren Tagebüchern. Immerhin notiert sie am 8. Februar 1875: „Wir nehmen die Symphonie von dem armen Organisten Bruckner aus Wien vor …“ Jene dritte Symphonie hatte Bruckner Wagner gewidmet – gnädig nahm dieser die Widmung an.

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Bei Bruckner handelt es sich nicht um Werke, sondern um einen Schwindel, der in ein bis zwei Jahren tot und vergessen sein wird.

Johannes Brahms, Komponist

Verschiedener hätten die Lebenswege nicht sein können. War der elf Jahre ältere Wagner in allem, was er tat, von Hybris geleitet, arbeitete sich Bruckner mühsam und fleißig nach oben. Wie ein kleiner Beamter: Sängerknabe, später Hilfslehrer und provisorischer Organist im Kloster St. Florian bei Linz. Dann, 1855, der erste Karrieresprung: Domorganist in Linz – sein Ruf als Meister im Orgelspiel und der Kunst der Improvisation sollte ihm fortan über die Landesgrenzen vorauseilen. Nach ersten großen geistlichen Werken und den ersten beiden Sinfonien folgte 1868 der Wechsel in die Hauptstadt. Wien war zu jener Zeit mehr als Hotspot der Habsburger Monarchie – es war ein musikalisches Weltzentrum. Bruckner sollte dort alsbald in den Strudel der musikalischen Weltanschauungen geraten.

Interessant ist, dass die knapp drei Jahrzehnte in Wien bis zu seinem Tod 1896 Bruckners Position aus der Sicht vieler Zeitgenossen nicht bemerkenswert veränderten. Rühmte sein Gönner Moritz von Mayfeld 1868 in einem Brief an Bruckner noch dessen „Triumphe in ‚fremden Weltteilen‘ – gemeint war ein erfolgreiches Orgelkonzert in Nancy –, sah sich der Komponist 1891 genötigt, darauf hinzuweisen, dass im Diplom seines Ehrendoktorats an der Universität Wien doch „der Ausdruck ‚als Symphoniker‘ nicht vergessen werde, weil darin stets mein Lebensberuf bestand“.

„Schamlos opportunistisch“: Anton Bruckner im Jahr 1890.  
Foto: IMAGO/UIG

„Schamlos opportunistisch“: Anton Bruckner im Jahr 1890.
Foto: IMAGO/UIG

Geriet es bei all den Auseinandersetzungen zwischen den Traditionalisten und den „Neudeutschen“, zu denen Bruckner gerechnet wurde, zu sehr ins Hintertreffen? Oder verdeckten die bis dato kaum gekannten sinfonischen Längen manchen den Blick auf das Wesentliche? Der auch einem rational denkenden Traditionalisten wie Bruckners großem sinfonischen Antipoden in Wien, Johannes Brahms, vor lauter Polemik abhandenkam: „Bei Bruckner handelt es sich nicht um Werke, sondern um einen Schwindel, der in ein bis zwei Jahren tot und vergessen sein wird“, geiferte der. Und sollte sich gründlich irren.

Was die Brahms-Fraktion um den mächtigen Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick so an diesem sinfonischen Mammut-Œuvre aufgebracht hatte, ist neben aller Ideologie wohl die Abwesenheit musikalischer Dialektik, wie sie von der Wiener Klassik begründet wurde. Stattdessen eine Architektonik auftürmender Akkordberge, abgezählter, periodischer Taktstrecken. Und der Zweifel. Kaum eine seiner – mehr als neun – Sinfonien, von denen Bruckner nicht mehrere Fassungen erstellt hätte. Verbesserungen? Darin sind sich Musikologen und Interpreten bis heute uneinig.

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Wer Anton Bruckner besser verstehen will, das vielleicht naive, bescheidene, selbstzweifelnde, gläubige Genie vom Lande, der nähere sich ihm an über ein kleines Werk: seine tief ergreifende, kurze A-cappella-Motette „Locus iste“ (1869). Dieser Ort ist von Gott geschaffen, so der Text. Könnte das auch für die Musik gelten? Anton Bruckner liegt an solchem Ort begraben: im Eingangsbereich unter „seiner“ Orgel in der barocken Stiftskirche St. Florian. In dieser Verfügung war er sich ganz sicher.



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