75. Geburtstag von Lionel Richie: Bänkelsänger mit Jahrhundertsong


„Ich war allein mit dir in meinem Kopf, in meinen Träumen hab dich tausendmal geküsst, ich seh dich manchmal an meiner Tür vorübergehen …“ „Hello!“ heißt das Lied, dessen erste Zeilen hier ins Deutsche übertragen wurden. Es ist das Lied, mit dem Lionel Richie die Songs seiner derzeit laufenden „Sing a Song All Night Long“-Tour beginnt. Eine doppelbödige Ballade. Tausendmal gehört, in den Achtzigern und Neunzigern – und damals mit vereinten Kräften auf allen Frequenzen totgedudelt von den Plätscher­radios der Republik.

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Und doch war und ist das bis heute ein Lieblingssong von Millionen. In den Worten schwingt die bange Sehnsucht eines Voyeurs d‘Amour, der einer versiegten Liebe hinterhertrauert und mit seiner Stimme aus Samt lockend und bedrohlich zugleich klingt. „Hallo! Is it me, you‘re waiting for?“ Brüchige Worte, gequälte Seele. Eine streicherschwere Ballade, wie sie damals typisch war für Richie. Sie gehört zu den Klassikern des Songwriters und Soulmanns, der am 20. Juni 75 Jahre alt wird.

In den 80er-Jahren, so heute der (trügerische) Eindruck, entstammte ein Drittel aller Songs im deutschen Radio dem Werk von Lionel Richie, den Rest teilten sich gefühlt Phil Collins und Michael Jackson. Den „Mr. Nice Guy der Popmusik“ nannten ihn damals die US-Medien.

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Richies letztes Album erschien vor zwölf Jahren

Dabei machte Richie in Wahrheit schon nach dem dritten Album „Dancing on a Ceiling“ (1986) eine Pause von zehn Jahren und erreichte mit seinen dann folgenden Alben nur noch songweise die alte Klasse. Seit seinen Countryduetten eigener Songs auf „Tuskagee“ (2012) ist kein neues Werk mehr erschienen. Ein Album, benannt nach seinem Geburtsort, einer 9000-Seelen-Stadt in Alabama, wo in seiner Kindheit strikte Rassentrennung herrschte. Aber auch die Stadt, in der die Bürgerrechtlerin Rosa Parks geboren wurde, die am 1. Dezember 1955 ihren Platz im Bus nicht mehr für einen Weißen frei machen wollte.

Richie, Sohn schwarzer Eltern, eines Systemanalysten der US-Army und einer Schulleiterin, wuchs auf dem Campus des Tuskegee Institute auf – einer Blase des Friedens für afroamerikanische Studenten, Lehrer und Soldaten. Rassismus erfuhr er dennoch, als er 1958 im 60 Kilometer entfernten Montgomery aus einem Brunnen „nur für Weiße“ trank. Sein Vater wurde deshalb von vier weißen Männern zur Rede gestellt und beschimpft. Auf Richies Frage, warum er sich nicht gewehrt habe, antwortete dieser später: „Ich hatte an diesem Tag die Wahl, ein Mann zu sein oder dein Vater zu bleiben. Hätte ich mich gewehrt, hätten sie mich getötet.“ Sweet home Alabama.

Mit „We Are the World“ ging Richie in die Popgeschichte ein

Das Theologiestudium brach Richie für die Musik ab. Bei den Commodores, 1968 hervorgegangen aus zwei Studentenbands, wurde er Saxofonist und einer der Leadsänger. Ab Mitte der 70er-Jahre wurden sie mit Songs wie „Brick House“ und „Too Hot ta Trot“ eine der führenden Funkbands. Die größten Hits aber waren die Balladen „Three Times a Lady“ und „Easy“ – und die schrieb Richie im Alleingang. Was er ab 1982 mit seiner Solokarriere fortsetzte. Er habe „eine große Popularität durch das Singen von selbst gemachten musikalischen Valentinsgrüßen erlangt“, ätzte die „New York Times“ 1986. Der Begriff „weinerlicher Bänkelsänger“ fiel. Richie focht das nicht an. Er war da schon in die Musikgeschichte eingegangen.

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Mit dem, was in der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1985 geschehen war, der Nacht, in der in Los Angeles „We Are the World“ aufgenommen wurde. Ein gigantisches Songpuzzle, gelegt von 45 Sängerinnen und Sängern und einer Band unter dem Ensemblenamen USA for Africa. „Diese eine Nacht hat alles überschattet, was bis dahin in meinem Leben passiert ist“, resümierte Lionel Richie jüngst in der Netflix-Doku „The Greatest Night in Pop“.

Weil Stevie Wonder nicht zu erreichen war, hatten sich die damals frischgebackenen Superstars Richie und Michael Jackson die Komposition des Songs für die Hungernden in Äthiopien geteilt. Am Ende ging daraus „Live Aid“ hervor, das Konzert aller Konzerte für eine bessere Welt. Nein, wir haben Woodstock nicht vergessen.

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Vier Grammys hat der dreifache Vater (ein Adoptivkind) und zweifach Geschiedene gewonnen, einen Oscar obendrein, mehr als 125 Millionen Platten verkauft, die junge Generation kennt ihn auch – als (seit sieben Staffeln) Juror der Talentshow „American Idol“. 2022 wurde Lionel Richie in die Rock-‘n‘-Roll-Hall-of-Fame aufgenommen (und sang „Easy“ – mit Foo Fighter Dave Grohls grandiosem Gitarrensolo). Richie sprach bei der Einführung über seine Erfahrungen als Schwarzer in der Musikindustrie. „Rock and Roll ist keine Farbe – es ist ein Gefühl“, sagte er in seiner Rede. „Es ist ein Vibe … und wenn wir zulassen, dass dieser Vibe durchdringt, wird dieser Raum wachsen und wachsen und wachsen.“

Im selben Jahr verkündete Richie, sich verstärkt der Countrymusik widmen zu wollen, mit der er schon 1980 begonnen hatte, als sein Song „Lady“ in der Version von Kenny Rogers die US-Charts anführte. „Ich bin so in Country verwurzelt, das glauben Sie nicht“, schwärmte er bei den Country Music Association Awards.

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Würde gut in die Zeit passen, jüngst hat sich auch Superstar Beyoncé mit dem Album „Cowboy Carter“ dem Genre zugewandt. Bislang ist es bei einem Versprechen geblieben. Populär ist Richie aber auch ohne Platten, so trat er bei den Krönungsfeierlichkeiten von König Charles III. auf. Er tourt weiter (im Tross die andere große Funktruppe der Siebziger, Earth Wind & Fire), hat einen längeren Aufenthalt in Las Vegas und die Hallen sind voll. Deutschland steht derzeit nicht auf dem Plan, aber man wäre schon froh über ein Wiedersehen und über ein Wiederhören mit Richies banger Konzerteingangsfrage: „Hello! Is it me, you‘re waiting for …?“



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