Mit welchen Techniken Edgar Allan Poe das Fürchten lehrt


Eigentlich hatte Edgar Allan Poe die Hochzeit mit seiner Jugendliebe Elmira Shelton vorbereiten wollen. Der Schriftsteller war deshalb am 27. September 1849 mit dem Schiff von Richmond, Virginia, nach Baltimore aufgebrochen. In seinem Haus in Fordham kam er nie an. Was in der folgenden Woche geschah, wo er sich aufhielt, liegt bis heute im Dunkeln. Am 3. Oktober wurde er in Baltimore auf einem Bürgersteig sitzend aufgefunden – verwirrt und abgewetzt. Er trug Kleidung, die nicht die seine war und machte den Eindruck, todkrank zu sein. Im Washington Medical College von Baltimore verstarb der Autor der besten Schauergeschichten des 19. Jahrhunderts, der Vater der Detektivgeschichte und der Science-Fiction vier Tage später. Ein Tod, der wie gemacht war für eine spukige Geschichte.

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Über Poes „verlorene Woche“ hat Regisseur James McTeigue 2012 einen Film, betitelt mit Poes berühmtestem Gedicht „The Raven“ gedreht. Er schickte den von John Cusack gespielten Dichter auf die Suche nach einem Serienmörder, der seine Taten an Poes Geschichten anlehnte. Bis heute versuchen sich Hobbydetektive an der Ergründung des Geheimnisses um Poes Verbleib.

Ein Zurückgewiesener, Einsamer: Edgar Allan Poe, Meister unheimlicher Geschichten, verstand es, seine Leser zu überraschen. In Amerika stießen seine Erzählungen anfänglich auf Ablehnung und Unverständns.

Ein Zurückgewiesener, Einsamer: Edgar Allan Poe, Meister unheimlicher Geschichten, verstand es, seine Leser zu überraschen. In Amerika stießen seine Erzählungen anfänglich auf Ablehnung und Unverständns.

Beaudelaire entdeckte den Seelenverwandten für Europa

Verachtet von der amerikanischen Gesellschaft als Trunkenbold und Erfinder von Verstörendem, begann Poes Stern Mitte der 1840er-Jahre in Frankreich aufzusteigen (wovon Poe wusste). Charles Baudelaire („Die Blumen des Bösen“) entdeckte ihn als Seelenverwandten und empfahl ihn ab 1845 durch seine Übersetzungen ins Französische den Europäern an. „All die Dokumente, die ich gelesen habe“, schrieb Baudelaire, „haben in mir die Überzeugung gefestigt, dass die Vereinigten Staaten für Poe nichts als ein großes Gefängnis waren, das er mit der fieberhaften Erregtheit eines Menschen durchstreifte, das für eine schönere Welt geschaffen ist und dass das Geistesleben des Dichters und sogar Trunkenbolds eine einzige ununterbrochene Anstrengung war, sich dem Einfluss dieser widerwärtigen Atmosphäre zu entziehen.“

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Beaudelaires Begeisterung war eine mannhafte Rettungsaktion. In der Literaturszene Amerikas hatte Poe tatsächlich keine Aufnahme gefunden, auch weil er als Journalist viele Literaten in Zeitungsrezensionen mit scharfzüngigem Sarkasmus kritisiert hatte.

Inzwischen ist sein Werk Weltliteratur und Schullektüre, seine Figur des Auguste Dupin aus gleich drei Kurzgeschichten gilt als Urbild des literarischen Detektivs und Vorläufer von Sherlock Holmes, sein rätselhafter (einziger) Roman „Der Bericht des Arthur Gordon Pym“ von 1838 wird als Startschuss der Science-Fiction gesehen. Der allseits gefeierte offizielle Sci-Fi-Vater Jules Verne selbst schrieb 1897 die Fortsetzung zu Poes Buch unter dem Titel „Die Eissphinx“.

Bis heute wird Edgar Allan Poe als Unvollendeter betrauert von allen Gruselfans, die gern mehr Geschichten vom Kaliber „Ligeia“ , „Froschhüpfer“ und „Goldkäfer“ versammelt gesehen hätten. Hier nun alles, was man über sein literarisches Angstmachen wissen sollte.

1. Edgar Allan Poe und die Überwältigung durchs Gefühl

„Tief ins Dunkel späht‘ ich lange / zweifelnd, wieder seltsam bange / Träume träumend, wie kein sterblich Hirn sie träumte / je vorher.“ Nie vergisst man diesen elend trauernden Mann in seinem einsamen Haus, in dessen Träumen die Braut Lenor noch lebt, an dessen Fenstergittern nächtens der Rabe der Vergeblichkeit rüttelt, ein „ebenholznes Wesen“, das seinen Gastgeber mit einem endlos wiederholten, rauen „Nimmermehr!“ in seinen Illusionen erschüttert. Das Glück ist in der Erde begraben, vorbei, für immer. Zusätzlich zu des Ich-Erzählers Wehklage wühlten die schaurigschönen Zeichnungen von Gustave Doré das Gemüt des Lesers auf, in denen der ahnungslose und todgeweihte Tropf umgeben ist von ihm unsichtbaren Grabmälern und Kreuzen, klagenden Seelen und schattigen Engeln.

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„Der Rabe“ von 1845 ist Poes berühmtestes Gedicht, geprägt von einem tiefen Durchdringen des Gefühls der Trauer, das auch Spiegel von Poes eigenem schwermütigen Wesens war. Der Autor steckt in seinen Versen, die Präludium eines Sammelbands unheimlicher und seltsamer, stets – dem Geist der Romantik folgend – ungemein emotionaler Geschichten waren, in denen der Mörder freilich auch mal der Orang-Utan war. Generationen verschlangen Poes Geschichten unter der Bettdecke, um sich alsdann vom lobesamen Dichter um den Schlaf gebracht zu fühlen. Inspiriert war der Autor Edgar Allan Poe insbesondere vom englischen Romantiker Lord Byron (er war 1816 Gastgeber jener Gesellschaft am Genfer See im „Jahr ohne Sommer“ gewesen, in der Mary Shelley ihren „Frankenstein“ schrieb), Charles Dickens (den Poe persönlich kannte) und vom Königsberger Meister des Erschauernlassens – E. T. A. Hoffmann.

2. Edgar Allan Poe und die autobiografische Erfahrung der Angst

Woher das Grauen bei Poe kommt? Über den Dichter, der am 19. Januar 1809 in Boston geboren wurde, gibt es große biografische Lücken, aber die zumeist tragischen Eckdaten sind bekannt. Der Sohn eines Schauspielerpaares war schon als Zweijähriger verwaist (der Vater verschwand spurlos, die Mutter starb). Er nahm als Zweitnamen den Nachnamen Allan seiner Zieheltern an, mit denen er zwischen 1815 und 1820 in Großbritannien lebte, die ihn nicht adoptieren wollten, wobei ihn der Ziehvater regelrecht ablehnte. Ein Zurückgewiesener, Verlorener, Einsamer, der wegen seines rebellischen Wesens auch nicht an der Militärakademie West Point bestehen konnte.

Poe heiratete 1836 seine knapp 14-jährige Cousine, die 1847, wie schon zuvor seine Mutter, an einer langwierigen Schwindsucht starb. Ihr über Jahre drohender Tod umdüsterte Poes Dasein, die Ideen der europäischen Romantik von Empfindsamkeit und Subjektivität trieben ihn an, und er schrieb, als sei er gleichsam ihre Feder. Die Amerikaner seiner Zeit mochten das Misanthropische an Poe nicht, der das Böse nicht nur als in Burgen und Wäldern lebendes Fremdgewese sondern als des Menschen ureigene Natur verstand.

Poe legt uns nahe, seinen Erzähler als verrückt zu bezeichnen, weil wir um unseres eigenen Verstandes willen immer glauben müssen, dass solch vollkommenes, motivloses Böses verrückt ist.

Stephen King über Edgar Allan Poes Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“

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3. Es ist bei Poe kein Verlass auf einen moralischen Ausgang

Poe-Lektüre ist ein besonderer Thrill. Denn man weiß jedesmal aufs Neue nicht, worauf die jeweilige Geschichte hinausläuft. Unvergleichlich, wenn man sich im schmalen Kegel einer Leselampe in einem ansonsten wohlig abgedunkelten Zimmer mittels seiner Fantasie in der Short Story „Die Maske des Roten Todes“ in Prinz Prosperos Burg begibt. Wo ein dekadentes Völkchen mit einem wilden Maskenball die Pest auszublenden versucht, die Seuche aber schließlich doch in Gestalt eines unheimlichen Wesens mordend die Festhallen durchschreitet und ihnen unbesehen ihres Standes den Garaus macht. Und wenn man dem Bericht des Mörders in „Das verräterische Herz“ lauscht, der glaubt, dass ihn die Polizei mit ihrer Sorglosigkeit nur narrt, dass sie – wie er selbst – den unheimlichen Herzschlag seines unter den Dielen verborgenen Opfers hören kann, erfährt man am Ende den Sieg der Gerechtigkeit. Der schuldgepeinigte Täter liefert sich selbst dem Gesetz aus. Happy End.

Verlässlich ist Poe als Moralist jedoch nicht: Der rachsüchtige Montresor, der erzählt, wie er seinen Feind Fortunato mit dem Versprechen auf ein „Fässchen Amontillado“ in den Keller unter seinem Palazzo lockte und ihn dort lebendig einmauerte, kommt mit Mord davon. Und wenn das messerscharfe Pendel der Inquisition in „Die Grube und das Pendel“ schon das Hemd des Delinquenten zerschnitten hat, ist ein Entkommen unmöglich, oder?

4. Poes Erzähler lassen den Leser stets im Zweifel

„Ich hörte alle Dinge, die im Himmel und auf der Erde vor sich gingen, und auch vieles, was in der Hölle geschah. Wie könnte ich also wahnsinnig sein?“ fragt der erkennbar wahnsinnige Ich-Erzähler zu Beginn der bereits erwähnten Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“ und hätte gerne die Zustimmung des geneigten Lesers. Er versichert ihm alsdann, er hätte „den alten Mann lieb“ gehabt, den er dann jedoch ob seines kranken „Geierauges“ zu ermorden beschloss. „Die vielleicht beste Erzählung über das innere Böse ist Poes ‚Das verräterische Herz‘, in der ein Mord aus purer Bosheit begangen wird, ohne jegliche mildernde Umstände, die das ‚Gebräu‘ verfeinern könnten“, schrieb Stephen King in seinem Gruselratgeber „Danse Macabre“ (1981). „Poe legt uns nahe, seinen Erzähler als verrückt zu bezeichnen, weil wir um unseres eigenen Verstandes willen immer glauben müssen, dass solch vollkommenes, motivloses Böses verrückt ist.“

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Die Protagonisten bei Poe (oder ihre Beobachter) sind in vielen Fällen Ich-Erzähler, also subjektive, unzuverlässige Berichterstatter. Sie rücken den Lesern dieser unheimlichen Geschichten besonders dicht auf die Pelle, sind verstörend in ihrer Emotionalität und lassen den Leser immer im Zweifel. Lebendig treten sie bis heute aus ihren Geschichten. Ob man je wieder solche wahrhaften Figuren in Schauergeschichten finden wird, fragt man sich. Hat da gerade ein Rabe „Nimmermehr!“ gekrächzt?

5. Wem kann man trauen? – Der Autor verursacht Paranoia

Literatur wurde im 19. Jahrhundert nicht von jedem Leser zwangsläufig als Fiktion gesehen sondern nicht selten als Beschreibung von tatsächlich Geschehenem „wahr genommen“. Edgar Allan Poe lässt den Leser in den Verstand seiner Protagonisten blicken, und siehe da, im Kopf des vermeintlich Gesunden, Normalen befindet sich ein kranker, rachsüchtiger, verdorbener Geist. Das Unheimliche in einer solchen Buchfigur steckt nun womöglich auch im vordergründig harmlosen Nächsten des Lesers verborgen – dem Nachbarn im Haus, dem Kollegen in der Fabrik, dem Bettler auf der Straße. Traue keinem und sei stets auf der Hut – Paranoia ist es, die den Leser beim genaueren Kennenlernen von Poes psychologisierten Charakteren befallen kann. Etwa dem angstbefallenen Roderick Usher aus „Der Untergang des Hauses Usher“, dessen Schwester gestorben ist und dessen Sinne übernatürlich geschärft sind oder dem vorsichtigen Egaeus, der krankhaft besessen ist von den Zähnen seiner Schwester Berenice.

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6. Poes Lieblingsmotiv spiegelt eine Jahrhundertangst

Poes Lieblingsmotiv – der nicht endgültige Tod – findet sich unter anderem in „Berenice“ und „Der Untergang des Hauses Usher“. „Es war nur eine Wirkung der Zugluft gewesen“, berichtet der Usher-Erzähler, „doch hinter diesen Türflügeln erschien die hohe, in ihre Leichentücher gehüllte Gestalt der Lady Magdalena Usher.“ Im Europa der Aufklärung, vom 17. bis ins 19. Jahrhundert gab es häufig Berichte über Tote, die bei Fällen einer Exhumierung seltsam verrenkt waren, als seien sie im Sarg erwacht und hätten versucht, sich in der Enge und Dunkelheit aus ihrem Grab zu befreien.

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Poes Geschichten bedienten damit eine der schlimmsten Ängste seiner Zeit, gegen die sogar offizielle Maßnahmen verhängt wurden. Kaiser Joseph II. (1841 – 1790) etwa, der Sohn von Maria Theresia, erlaubte eine Beerdigung Toter frühestens nach 48 Stunden, in Särgen wurden Signalvorrichtungen montiert, Glöckchen an Finger und Füße gehängt. Poe machte den Lesern Angst mit seiner eigenen Angst, die er übrigens mit Dichterkollegen wie Hans Christian Andersen und Fjodor Dostojewski teilte.

7. P.S.: Warum Poe aufs Cover des berühmtesten Popalbums passt

Flowerpower statt Gedenkstein. Blumen auf dem Grab formte den Bandnamen „Beatles“. Und in der hintersten Reihe der Trauergemeinde sieht man recht zentral, als Achten von links: Edgar Allan Poe. Es ist 57 Jahre her, dass die Wunderschallplatte erschien. „Sergeant Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ änderte 1967 den Blick auf die Popmusik. Es war ein Album von vier Musikern, die ihr Beatlessein satt hatten, keine Konzerte mehr gaben sondern nur noch im Studio spielen wollten. Sie waren eine andere Band geworden.

Und so steht Poe ganz passend am Grab der buchstäblich lebendig begrabenen Band. Die Blaskapelle vom Klub der einsamen Herzen im Zentrum des Covers blickt hoffnungsfroh nach vorn, derweil eine Wachsfigurengruppe der Pilzkopf-Beatles in ihren kragenlosen Anzügen erschüttert vom eigenen Ableben scheint. Vor allem der wächserne Ringo Starr will gleich losheulen, der wächserne John Lennon legt ihm eine tröstende Hand auf die Schulter. Nicht traurig sein. Die Beatles sind tot, es leben die Beatles! Und keiner weiß mehr über Scheintode als Poe, der – von John Lennon verehrt – sich auch im Text eines Beatles-Songs aus demselben Jahr findet: „Element‘ry penguin singing Hare Krishna / man, you should have seen them / kicking Edgar Allan Poe / I am the eggman (oooh) / they are the eggmen (ooh) / I am the Walrus!“. Was immer Lennon damit sagen wollte …

Schräg links über Marilyn Monroe: Edgar Allan Poe (hinterste Reihe der Trauergemeinde, 8. v. l.) am Grab der Beatles auf dem Cover des Albums "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" von 1967.

Schräg links über Marilyn Monroe: Edgar Allan Poe (hinterste Reihe der Trauergemeinde, 8. v. l.) am Grab der Beatles auf dem Cover des Albums „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von 1967.



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