Revue und Jazz statt Dancepop


„Es gibt immer einen Joker im Rudel / es gibt immer einen einsamen Clown“, singt Lady Gaga. „Der arme lachende Narr fällt auf den Hintern / und alle lachen, wenn er am Boden liegt.“ Der Song „The Joker“ ist Teil ihres neuen Albums. Und hat mit ihrem neuen Film zu tun. In „Joker: Folie à deux“ spielt die gebürtige New Yorkerin eine der schrägsten Antagonistinnen des Comic-Universums von DC, der Heimat also von Batman und Superman. Das Album „Harlequin“ ist für Gaga Mittel zum Zweck. Abschied von einer Figur, die offenbar nicht so leicht loszulassen ist.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Die Figur des Harlekin steht im Kartenspiel für Überraschungen

In der Fortsetzung des Films „Joker“ (2019) ist Lady Gaga als Harleen „Lee“ Quinzel alias Harley Quinn zu sehen, in der Rolle, mit der schon Margot „Barbie“ Robbie 2016 in „Suicide Squad“ ihren Durchbruch hatte. Gefühlt alle Mädchen im Backfischalter liefen vor acht Jahren Harleys „Daddy‘s Li‘l Monster“-Shirt umher. Ursprünglich trug Harley Quinn in Animationsfilmen und Comics ein Arlecchinokostüm à la Commedia dell‘Arte – eins, wie es auch auf den Jokerkarten vieler Rommé-Spiele zu sehen ist. Die Stellvertreterkarte. Die Überraschung im Blatt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Was zu Gagas Überraschungsplatte „Harlequin“ passt. Dass Alben der ganz großen Stars in digitalen Zeiten nicht mehr zwangsläufig mit wochen- oder gar monatelangem Vorlauf beworben werden, ist inzwischen Normalität. Weshalb Unsummen in Kampagnen investieren, wenn die Sache ein Selbstläufer ist? Das nun erschienene neue Gaga-Liederbuch wurde entsprechend erst am Mittwochvormittag angekündigt. Es ist eine Art Trabant zum Film, der – Überraschung – eine Art Gotham-Musical sein soll.

Der erste Song aus „Harlequin“ hat ein knalliges Heck aus Indierock

Der anderthalbminütige Clip zur Platte, in dem Gaga mit roter Kurzhaarfrisur der Mona Lisa im Louvre ein breiteres Lächeln auf die Glasscheibe schmiert, lieferte dann am Mittwoch auch eine musikalische Surprise: „The Joker“ beginnt balladesk mit einer tickenden Gitarre, hat dann aber ein knalliges Heck aus Alternative-Rock. Nichts verweist darauf, dass das Stück 60 Jahre alt ist und aus dem Portfolio von Las-Vegas-Ratpacker Sammy Davis Jr. stammt. Die Gaga hat „The Joker“ neu erfunden.

Musikalisch ist das Album durchweg ungewöhnlich. Wer auf Tanzbeats à la „Poker Face“ und „Paparazzi“ hoffte, geht wieder leer aus. Stattdessen bittet die Lady auf „Folie à Deux“, einem von nur zwei neuen, eigenen Songs, zum Walzer. Das Album swingt los mit fröhlichen Adaptionen von Revuesongs aus den Dreißigerjahren – Judy Garlands „Good Morning“ und Ruth Ettings „Get Happy“.

Ein Vexieralbum: Harley Quinn singt bei Lady Gaga mit

Das alte Zeug reißt den Hörer vom Hocker, doch mit dem Traditional „Oh When The Saints (Go Marching in)“ wird mit Schmurgelorgel und verzerrter Rock‘n‘Roll-Gitarre klargemacht, dass der Gaga-Jazz (sie hat bereits zwei Alben mit der 1993 verstorbenen Jazzlegende Tony Bennett eingespielt) diesmal seine Tücken hat. Dass diesmal in den Songs außer Lady Gaga eben auch die Filmfigur Harley Quinn samt ihrer gefährlichen Stimmungen zu finden ist.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Von der sich die Lady mit diesem Vexieralbum verabschieden möchte. Und vor der man schon Angst haben muss, wenn Gaga/Harley singt „Ich hab die Welt am Faden / sitz‘ auf einem Regenbogen / und hab die Schnur um meinen Finger“, wobei eine Dick-Dale-artig tremolierende Surfgitarre der Euphorie von Frank Sinatras „World on a String“ etwas Sinistres beigesellt. Und der rasante Lindyhop von Shirley MacLaines „If My Friends Could See Me Now“ (im Original aus dem Musical „Sweet Charity“) verheißt auch nichts Gutes, wissen zumindest Comic- und Filmfans doch, zu was eine Harley Quinn in Raserei fähig ist. „Eine komplexe Frau, die sein will, was immer ihr einfällt – in jedem Augenblick“ zog die Sängerin bei der Londoner Premiere des Films die Parallele zwischen ihr und der Figur.

Lady Gaga hat viele Gesichter – und lässt mit Dancepop auf sich warten

Gaga singt Charlie Chaplins trauriges „Smile“ und Burt Bacharachs „Close to You“ mit silbriger Rauchstimme und sie groovt zur Schmurgelorgel zum Blues von Sammy Davis Juniors „Gonna Build Me A Mountain“. Sie ist völlig losgelöst von Erwartungen, dabei halstief in ihrem Element, der Musik.

Das Stream-Team

Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. direkt in Ihr Postfach – jeden Monat neu.

Schon die letzten Veröffentlichungen waren ja weit weg vom Dancepop für die Massen gewesen. Mit Mick Jagger hatte sie im Duett „Sweet Sounds of Heaven“ gesungen, den siebenminütigen Weihnachtsgospel der Rolling Stones. Und erst vor Monatsfrist veröffentlichte sie im Zwiegesang mit Bruno Mars die Softrockballade „Die with A Smile“ mit einem Video, bei dem sie Siebzigerjahre-Cowboy-Outfit und Turmfrisur am E-Klavier saß – Zigarette steil aus dem Mund aufragend. Message: „Wenn die Welt untergeht, will ich neben dir stehen.“ Hätte vom Text her gut auf „Harlequin“ funktioniert.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Figuren aus dem DC-Universum wird man nicht so leicht los

Alle Genres sind Gaga-Genres, die Lady ist eine Tramperin zwischen den Stilen. Und zwischen den Kunstformen, wie sie mit ihrem vorzüglichen Spiel als Countrysängerin in Bradley Coopers Musikdrama „A Star Is Born“ (2018) und als Mörderin in Ridley Scotts Modehausthriller „House of Gucci“ (2021) bewies. Nächste Woche nun also die DC-Superbösewichtin. Solche Figuren rücken einem offenbar arg zu Leib und Seele.

Gaga hat ihre Harley Quinn vor den Dreharbeiten ähnlich lange und intensiv erforscht wie der an Medikamentenmissbrauch wegen Angstattacken verstorbene Heath Ledger damals seinen Joker für Christopher Nolans Batman-Film „The Dark Knight“ (2008). Über Ledger fanden damals Gerüchte Verbreitung, er sei den Joker nicht mehr losgeworden. Ein therapeutisches Album ist „Harlequin“ vielleicht auch.

Lass es Liebe sein: Joaquin Phoenix als Arthur Fleck alias Joker und Lady Gaga als Harleen "Lee" Quinzel, der späteren Harley Quinn in einer Szene aus dem Film "Joker 2: Folie À Deux". Comic-Fans wissen, dass diese innige Zweisamkeit nicht ewig hält. Für ihre Filmfigur hat Lady Gaga jetzt das Album "Harlequin" veröffentlicht.

Lass es Liebe sein: Joaquin Phoenix als Arthur Fleck alias Joker und Lady Gaga als Harleen „Lee“ Quinzel, der späteren Harley Quinn in einer Szene aus dem Film „Joker 2: Folie À Deux“. Comic-Fans wissen, dass diese innige Zweisamkeit nicht ewig hält. Für ihre Filmfigur hat Lady Gaga jetzt das Album „Harlequin“ veröffentlicht.

Lady Gagas „Harlequin“ rundet den Sommer der Popfrauen ab

Das Album rundet zu Herbstbeginn den großen Sommer der Pop-Frauen ab. Den Sommer von Taylor Swift, Billie Eilish, der MTV-Video-Award-Gewinnerinnen Chappell Roan (beste Künstlerin) und Sabrina Carpenter (bester Song „Espresso“) und natürlich von Charli xcx‘ Görenpop auf ihrem Album „Brat“. Den Sommer, der schon im Frühjahr begonnen hatte, als Beyoncé mit dem Album „Cowboy Carter“ ihre Vision von Country offenbarte und – unter anderem – Beatles sang: „Blackbird singing in the dead of night …“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Gaga singt Harley und ihre Vision von Swing: „Ich fühl mich so verrückt / mein Kopf ist gefüllt mit zerbrochenen Spiegeln“ heißt es in der Akustikballade „Happy Mistake“, dem zweiten eigenen Song des Albums, der Vorfreude weckt auf das Kinomusical über Lee Quinzel, die ihren Arthur „Joker“ Fleck in der Musiktherapieklasse des Arkham Asylums trifft. Die Verstörte und der Irre verlieben sich. Für den fünffachen Mörder Fleck geht es um Leben und Tod, ihm droht der elektrische Stuhl. Aber er will leben als Clownsheld für die völlig gestörte Frau, die Lady Gaga mit Geheimnis und Boshaftigkeit spielt, wie erste Kritiken verrieten. „Wird sie (Gaga) die Lady Macbeth des DC-Superschurkentums?“, fragte der britische Guardian.

Die Judy Garland der neuen Zwanzigerjahre ist sie schonmal.

Album: Lady Gaga – „Harlequin“ (Interscope)



Source link

Beitrag teilen: