Der mit Aliens singt – neues Album „The Art of the Lie“


Hannover. „Aliens“ hat John Grant die Dinge in seinem Leben genannt, die ihn kaputt machen: der Schmerz, als homosexueller Mann von nicht wenigen Menschen verteufelt zu werden – sogar von seinen eigenen Eltern, die Schuldgefühle, der Selbsthass, die Angst. „Ich fühle mich wie Sigourney Weaver, als sie die Aliens töten musste“, sang er 2010 auf seinem ersten Soloalbum „Queen of Denmark“.

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Wie fühlt er sich heute? Immer noch wie Weaver in der Horrorfilm-Trilogie „Aliens“? Die amerikanische Schauspielerin bekämpfte in ihrer Rolle als Ellen Louise Ripley außerirdische Monster. Der 55-Jährige lacht. „Ich weiß nicht genau“, antwortet er beim Zoom-Interview. „Ja, ich fühle mich immer noch ein bisschen so. Ja, das könnte man so sagen.“

Mit der tröstlichen Stimme eines Softrocksängers

Grants Kunst ist es, seinen Schmerz in Schönheit, in Melodie und Mitgefühl zu verwandeln. Auch auf seinem sechsten Soloalbum „The Art of the Lie“ behandelt er eigene, schwer verheilende Wunden mit einer Kombination aus Folk und Elektro-Pop. Seine Empörung über Menschen, die andere als aussätzig stigmatisieren und damit aus der Gemeinschaft verbannen, äußert er mit der tröstlichen Stimme eines Softrocksängers. Hin und wieder versucht er, ewige Eckensteher auf die Tanzfläche zu locken. Bisweilen klingen seine Lieder, als würde er nicht über seine Aliens singen, sondern mit ihnen.

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Seine Offenheit sowohl auf seinen Aufnahmen als auch bei Interviews sucht seinesgleichen. Er berichtet frank und frei über das, was ihn belastet: seine Kindheit als offensichtlich schwuler Junge in einer homophoben Umgebung, die Zeiten der Einsamkeit, die Jahre der Selbstzerstörung, seine Fluchten in Alkohol, Kokain, Sex, die HIV-Diagnose, die er 2012 auf der Bühne öffentlich machte.

„Ich bin zu fehlerhaft, um den Schein zu wahren“, sagt er. „Das sind die Dinge, mit denen ich im Alltag zu tun habe. Ich versuche immer noch, damit fertig zu werden. Mein ganzes Leben lang musste ich mich verstellen – in meiner Kunst möchte ich das nicht.“ Hinter einer Kunstfigur zu verschwinden, so wie es David Bowie zeitweise tat, will er nicht.

Grant ist in Parker, Colorado, aufgewachsen. In der konservativen Highschool, die er besuchte, wurde er schikaniert. Die ganze Welt kam ihm feindselig vor. „Die Leute waren gemein zu mir, weil sie dachten, sie könnten sehen, dass ich schwul bin“, erzählte er der BBC. Seine streng religiösen Eltern prophezeiten ihm, dass er in die Hölle komme, wenn er sich nicht „ändert“.

„Wie jedes Kind habe ich meinen Eltern vertraut. Ich habe ihnen geglaubt“, erzählt er. „Das Schlimmste ist, dass ich diesen Hass auf Homosexuelle, auf diesen Lebensstil, wie sie es nannten, dermaßen verinnerlicht habe, dass ich ihn gegen mich selbst auslebe.“

In dem Lied „Father“ kehrt er in sein Elternhaus zurück, das Haus, das sein Vater erbaut hat, „wo es immer etwas zu essen gab“, wie er erzählt, in dem er sich eigentlich hätte sicher und geborgen fühlen sollen.

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„Du hast Angst zu leben und Angst zu sterben“

„Jetzt ist es leer“, singt Grant. „Ich schäme mich, weil ich nicht der Mann sein konnte, den du dir erhofft hast.“ Grant sieht die Treppe, auf der er damals, in den Siebzigerjahren, häufig saß. Im Radio laufen die Beach Boys.

Seinem Vater begegnet er in diesen Szenen nicht. Der Sohn betrachtet aber dessen Werkbank. „Ich würde alles geben, dich dort stehen zu sehen“, singt er. „Und manchmal möchte ich einfach in deine Arme laufen und noch einmal von dir gehalten werden.“

Der Song verdeutlicht Grants innere Zerrissenheit. „Ich liebe meinen Vater immer noch – trotz allem“, sagt er. Doch gleichermaßen beschreibt er, wie er sich gegen dessen Weltsicht auflehnt. „Du hast, wie es scheint, dein ganzes Leben einer großen Lüge gewidmet. Du hast Angst zu leben und Angst zu sterben“, sagt der Sohn in dem Song zum Vater. „Und ich schwor, dass ich niemals ein Teil dieser Welt sein würde.“ Eine Welt, die voller scheinheiliger Instanzen ist, wie Grant findet. „Ich bin mein ganzes Leben von Menschen verurteilt worden, die sich auf die Bibel berufen“, sagt er. Reaktionäre Menschen wie seine Eltern, aber auch wie der frühere US-Präsident Donald Trump und dessen Anhänger.

Trumps Aggressivität gegen Andersdenkende, seine „Politik der Wut“, wie Grant sie nennt, aber auch die immer lauter werdenden Demokratiefeinde in anderen Regionen der Welt erinnern Grant an seine eigene, von Ausgrenzung geprägte Geschichte. „Dieser nationalsozialistische Geist bäumt sich wieder auf“, sagt er. Es dürfe nicht sein, dass rechte Ansichten als normal akzeptiert werden. Und so verbindet er in mehreren Songs das Persönliche mit dem Politischen. Dann wird „The Art of the Lie“ zum Protestalbum.

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„Keiner deiner Söhne wird jemals eine Schwuchtel sein“, spottet der Musiker in dem Song „Meek AF“ in Richtung Trump-Wähler. „Du hast das Neue Testament nie gelesen, weil es kein Bilderbuch ist.“

Der vorbestrafte Ex-Präsident, der wegen einer Reihe von Gerichtsverfahren in finanziellen Schwierigkeiten steckt, will bei der kommenden Wahl im November erneut für die republikanische Partei kandidieren. Seinen Wahlkampf versucht er mit dem Verkauf einer eigenen Trump-Bibel zu finanzieren. 59,99 US-Dollar kostet ein Exemplar.

„Menschen, die behaupten, Jesus zu lieben, aber auch Trump gut finden, kann ich nicht verstehen“, sagt Grant. Für ihn passen Menschlichkeit und Nächstenliebe, was Jesus predigt, und der narzisstische Trump nicht zusammen.

Die eindringliche Bitte, einander zuzuhören

„Solche Menschen projizieren einfach das eigene Ich auf Jesus“, sagt Grant. Womit sich auch der Albumtitel „Die Kunst der Lüge“ erklärt. In dieser Formulierung, so scheint es, hallt angewidertes Staunen darüber mit, dass Trump mit seinen Großmachtphantasien, seinen einfachen Antworten auf komplizierte Fragen und dreisten Verschwörungserzählungen wie der von der angeblich gestohlenen Wahl bei einem Teil der Amerikaner durchkommt.

Im Lärm dieser Vereinfacher wirkt Grants sensible Musik wie eine eindringliche Bitte, einander zuzuhören.

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Grants Mutter starb 1995 an Lungenkrebs. Zu seinem Vater hält er losen Kontakt. „Ich muss meinen eigenen Weg da draußen in der Welt finden“, sagt er.

"Wir sollten die Dinge der Jugend mit Grazie loslassen": Reinhard Mey.

Vermissen Sie es, selbst noch zu fliegen, Reinhard Mey?

Was empfindet Reinhard Mey, wenn ihm ein Reim gelingt, mit dem er lange gerungen hat? „Glück kann man es nennen“, sagt der 81-Jährige im Interview. „Oftmals weiß ich gar nicht, wie es geschehen ist.“ Und was hilft in furchterregenden Zeiten? Es ist die Liebe, wie er auf seinem neuen Album singt.

Die Suche nach einem Ausweg begann zu Schulzeiten. Grant hörte wie viele andere auch New Wave – Siouxsie and the Banshees, Bauhaus, Cocteau Twins und ähnliche Bands. „Ich hatte Freunde, die so zur Schule kamen, wie sie wollten, mit all dem Make-up und Haarspray, aber sie kämpften nicht mit ihrer Sexualität“, erzählte er in einem Interview mit dem „Guardian“. Seine Eltern und die Kirche lehnten diesen Look ab. „Wenn du weder zu Hause noch außerhalb unterstützt wirst, kannst du nirgendwo hingehen. Ich konnte nirgendwo ich selbst sein.“

1988 versuchte er, Homophobie, Hass und Häme zu entkommen, indem er nach Deutschland zog. Im rheinland-pfälzischen Germersheim studierte er Deutsch und Russisch. Dieser Umzug habe ihm „die ganze Welt eröffnet“, sagt er. In Deutschland habe er erkannt, dass es sehr wohl Orte auf der Welt gibt, an denen er sich willkommen fühlen kann.

Grant wohnte auch in New York und London. Seit elf Jahren lebt er in Reykjavik. Er spricht sechs Fremdsprachen: Deutsch, Isländisch, Russisch, Spanisch, Schwedisch und Französisch.

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Mit The Czars, seiner ersten, 1994 in Denver, Colorado, gegründeten Band, veröffentlichte er sechs Studioalben. Die Kritikerlieblinge lösten sich jedoch aus Erfolglosigkeit auf. Grant arbeitete danach als Plattenverkäufer, Flugbegleiter und in einem Krankenhaus als Übersetzer für russische Patienten. Die mit ihm befreundete texanische Band Midlake überredete ihn schließlich, es noch einmal mit Musik zu versuchen. „Ich wollte die Welt verändern, aber ich konnte nicht einmal meine Unterwäsche wechseln“, heißt es im Titelsong von „Queen of Denmark“. Das Musikmagazin „Mojo“ kürte Grants Solodebüt zur Platte des Jahres.

Midlake, die ihn auf diesem Album begleiteten, hatten an ihn geglaubt – anders als seine Eltern.

Hat er jemals versucht, seine Eltern zu ändern? „Ich will meinen Vater überhaupt nicht ändern“, antwortet er. „Es ist schwierig genug, sich selbst zu ändern. Ich weiß, dass er mich liebt, und ich versuche ihn so zu lieben, wie er ist.“

Grant hätte sich, damals in Parker, Colorado, jemanden gewünscht, der so offen wie er heute darüber spricht, dass schwul zu sein einen Menschen nicht weniger menschlich macht als andere Menschen, wie er sagt.

Parker liegt am Highway 25. Auf seinem zweiten Album „Pale Green Ghosts“ erinnerte sich Grant an die im Mondlicht schimmernden, herrlich duftenden Olivenbäume, die die Straße säumten. Auf nächtlichen Autofahrten kamen sie ihm wie blassgrüne Geister vor, die ihm buchstäblich zur Seite standen. „Ich bin genau hier, aber ich will dort sein, und niemand auf dieser Welt wird mich aufhalten“, sang er. Es waren wohl diese Autofahrten, auf denen er seine Fluchtpläne schmiedete.

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„Du willst nur dein Leben leben. (…) Sie sagen, du bist krank“, beschrieb er in dem Lied „Glacier“ den Schmerz, ausgegrenzt zu werden. „Dieser Schmerz, er ist ein Gletscher, der sich durch dich bewegt. Er gräbt tiefe Täler, schafft spektakuläre Landschaften, nährt den Boden mit wertvollen Mineralien und anderen Dingen. Lasst euch nicht durch Angst lähmen, wenn die Zeiten besonders hart erscheinen.“



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